Liebe Freunde,

 

je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass ich zeit meines Lebens fast nichts anderes getan habe, als zu versuchen meine Jugendträume zu realisieren, dafür einiges auf mich zu nehmen und anderen zuzumuten. Bin ich meist erfolgreich in der Umsetzung banaler Vorhaben, scheitere ich an ehrgeizigeren Traumzielen (wie z.B. die Welt zu retten). Mehr als nur einen Bruchteil seiner Träume zu verwirklichen ist ohnehin unmöglich. Niemand kann das. Es kommt nur darauf an, seine Träume auch im Scheitern nicht zu entwerten, geringzuschätzen und sich ihrer nicht als Hirngespinste zu schämen.

Übrigens finde ich diese These, diese Gedanken über Träume, von kompetenter Seite gestützt. In seinem Drama Don Carlos lässt Schiller den Marquis Posa zur Königin sagen und dem Prinzen ausrichten:

 

  „... Sagen Sie Ihm,

Dass er für die Träume seiner Jugend

Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird,

Nicht öffnen soll dem tötenden Insekte

Gerühmter besserer Vernunft das Herz

Der zarten Götterblume – dass er nicht

Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit

Begeisterung, die Himmelstochter, lästert...“

(Don Carlos IV, 21)

 

Ich habe dieses Schiller-Zitat quasi zu meinem Lebensmotto erhoben. Ich denke, dass ich Achtung trage für die Träume meiner Jugend. Mehr noch, mir waren die Versuche, meine Jugendträume zu verwirklichen, immer selbstverständlich, so dass mir erst jetzt bewusst wird, dass darin womöglich der Sinn des
– zumindest meines – Lebens besteht. Wobei die Betonung auf „Jugend“ liegt. Mit dem Älterwerden träume ich weniger, die Fähigkeit zur Begeisterung ist mir weitgehend erhalten geblieben. In der ersten Strophe von Georges Moustakis wunderbarem Lied
Le Métèque, heißt es:

 

...Avec mes yeux tout délavés
Qui me donnent l’air de rêver
Moi, qui ne rêve plus souvent...

 

(...Mit meinen ganz verwaschenen Augen,
die mir ein Aussehen geben, als ob ich träume,
 – mir, der nicht mehr oft träumt...)

 

Die Träume seiner Jugend bilden für den Künstler später, indem er sie in Bezug zu der ihn umgebenden Wirklichkeit setzt, nicht nur die nie versiegenden Quellen seiner Ideen, sondern auch wirksame Barrieren gegen das „tötende Insekt gerühmter besserer Vernunft“ – ich könnte keine „vernünftigen“ Lieder schreiben.

Träume sind nicht mit Illusionen zu verwechseln, auf die irgendwann immer die Ernüchterung folgt, die aber zu ertragen ist – jeder macht sich hin und wieder irgendwelche Illusionen. Doch auch hier lauern auf den Künstler Fallen, in die er tappen kann. Und eine sich als „nüchtern realistisch“ gebende Sicht der Dinge ist oft nichts weiter als „des Staubes Weisheit“ – die unfruchtbar und zynisch „Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.“ Und ebenso wenig wie „vernünftige“ könnte ich „nüchterne“ Lieder schreiben.

 

Hannes Wader

im März 2018